Du bist ein Geschenk!?

Ich hoffe, dir ist schon einmal gesagt worden, dass du ein Geschenk bist. Mit so einem Satz verbinden wir für gewöhnlich Wertschätzung, vielleicht Dankbarkeit. Es ist gar nicht so schlecht, als Geschenk wahrgenommen zu werden. Wer mich als Geschenk sieht, ist mir wohlgesonnen. Das kann in der Begegnung schon recht hilfreich sein.
Aber was qualifiziert einen Menschen dazu, als ein Geschenk wahrgenommen zu werden? Meist wird es dann gesagt, wenn jemand für Hilfe gesorgt hat, wenn jemand zur Erleichterung irgendeiner Last oder Aufgabe beigetragen hat. Oder es hat einer mitgedacht und dadurch einen wichtigen Beitrag geleistet.
Ein Geschenk spricht von einem Wert für den, der sich beschenkt sieht. Was dabei wertvoll ist, kann sehr unterschiedlich sein.
Selten habe ich gehört, dass Menschen für ihr kritisches Denken als Geschenk bezeichnet werden. Da hinterfragt jemand meinen Gedanken, mein Handeln, meine Entscheidung. Für gewöhnlich fühlt sich das nicht gut an – also kein Geschenk. Dennoch ist es wichtig, dass ich in meinem Handeln und in meiner Gedankenwelt auch herausgefordert bin und nicht nur von Bestätigung lebe.
Kann es sein, dass wir von Geschenken umgeben sind, die nicht nach solchen aussehen?
Nun haben wir alle unterschiedlichen Charaktere und Lebensstile. Wir sind Nähe- und Distanzmenschen, Ordnungs- und Freiheitstypen. Jeder von uns hat so seine eigene Mischung des Menschseins. In der Gemeinde sind wir wild zusammen gewürfelt mit all unseren individuellen Zusammensetzungen zu einer Gemeinschaft, die wir als „Gemeinschaft der Gläubigen“ oder „Gemeinde Jesu auf der Erde“ usw. bezeichnen würden. Wir sprechen von einer Gemeinschaft, in der Gutes passieren soll. Ist es nicht naheliegend, dass hier lauter „Geschenke“ zusammenkommen.
Nun – das ist alles eine Frage der Perspektive. Ich kenne viele Begegnungen mit Mitmenschen, auf die ich zu dem Zeitpunkt gerne verzichtet hätte. Begegnungen, die man nicht geschenkt haben möchte. So wird es vermutlich jedem von uns gehen.
Welche Perspektive also kann das ändern?
Ich erinnere mich an einen Leitungskongress in Oberhausen. Viele Jahre ist es her. Wir waren mit einer größeren Gruppe aus unserer Kirchengemeinde dort. In Erinnerung blieb mir insbesondere der Vortrag eines Psychotherapeuten aus den USA. An seinen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, nur an das, was er sagte. Er meinte, die Kunst des persönlichen Wachstums würde darin bestehen, in jedem Menschen, den Gott mir über den Weg schickt, einen Gewinn zu erkennen. Dieser Gedanke fordert mich bis heute heraus. Mein Gefühl sagt mir, dass ich diesen Gedanken nicht weiterverfolgen möchte. Mein Verstand widerspricht. Also führe ich den Gedanken weiter.
Jede Begegnung als gewinnbringend sehen.
Vielleicht können wir an dieser Stelle die Begegnungen ausklammern, in der Menschen Opfer von Gewalt – welcher Art auch immer – geworden sind. Hier von einem persönlichen Gewinn zu sprechen, kann zynisch sein.
Bleiben wir bei den alltäglichen Begegnungen, die wir als gemeinschaftsbedürftige Wesen erleben. Da begegnet mir einer, der mich für etwas verantwortlich macht, was nicht meiner Verantwortung obliegt. Da stellt mir einer eine persönliche Frage, die ich nicht beantworten möchte. Da macht einer einen Witz auf meine Kosten. Jemand bittet mich um mehr als ich zu geben imstande bin. Da schaut mich einer an und mir ist klar, dass dieser Blick nicht wohlwollend ist. Die Liste kann unendlich weitergeführt werden.
Das sollen „Geschenke“ sein? Niemals! Oder vielleicht doch? Vielleicht ein bisschen?
Nun – welche Möglichkeiten habe ich bei solchen „Geschenken“? Ich kann solchen Begegnungen aus dem Weg gehen. Irgendwann bleiben nicht mehr viele Menschen übrig, denen zu begegnen ich bereit bin. Ich kann aber auch lernen, mich solchen Begegnungen zu stellen. Hier sind wir schon im Bereich des persönlichen Gewinns. Begegnungen meistern, ihnen etwas Gutes abgewinnen, auch wenn sie nicht sofort danach schmecken.
Als Gemeinde Jesu sind wir ein bunter Haufen. Gott ist ein Gott der Vielfalt, nicht der Einfältigkeit. Also sind auch menschliche Begegnungen vielfältig. Nicht jede Vielfalt entspricht mir und meiner Art. Aber ich kann lernen, der anderen Art zu begegnen, ihr etwas abzugewinnen, was mir zunächst fremd ist.
Es ist doch nicht nur der Gedanke gut, der auch mein Gedanke sein könnte, und es ist doch nicht nur die Entscheidung gut, die auch meine sein könnte.
Dennoch – es gibt auch Begegnungen, die sind einfach nicht gut. Die sind verletzend, manchmal verstörend und gefühlt unnötig. Kann ich diesen etwas abgewinnen? Ja – höre ich den vorhin genannten Vortragsredner sagen. Ich kann sie nutzen, um persönlich zu wachsen. Die Fehler anderer können mein Persönlichkeitswachstum sein.
Wir hören uns zeitweise sagen, dass Gott auch Fehler nutzt, um Gutes zu tun. Wenn das wahr ist, können wir „fehlerhafte“ Begegnungen nutzen, um weiterzukommen, um zu wachsen, um Situationen im Leben besser zu meistern, um Gelassenheit zu üben, Fehler zu verzeihen, an Kritik nicht zu zerbrechen, um den eigenen Wert zu erkennen, besser schlafen zu lernen, Sorgen abzugeben, die Freude wiederzufinden oder sie zu behalten, Verantwortung mitzutragen oder zu übernehmen. Ach – auch diese Liste ist unendlich.
Du bist mir ein Geschenk? Du doch nicht? Oder vielleicht doch?
Hans Esau