Leben und glauben mit Umkehrbrille

Eine Umkehrbrille ist eine spezielle Brille, die so gebaut ist, dass ihr Träger seine Umwelt auf den Kopf gestellt sieht. Oben ist unten und unten ist oben. Es gibt sie als lustiges Spielzeug für Kindergeburtstage, aber entwickelt wurde sie vor allem für die psychologische Untersuchung der menschlichen Wahrnehmung. Es ist nämlich gar nicht so einfach, sich im Raum zurechtzufinden, wenn die gewohnte Welt optisch auf dem Kopf steht. Es hat sich aber auch herausgestellt, dass der Brillenträger, wenn er die Brille dauernd aufgesetzt hat, sich nach ungefähr 8 Tagen so daran gewöhnt, dass er wieder normal gehen und Dinge greifen kann. Auch wenn er immer noch sieht, dass die Welt Kopf steht, kann er dennoch damit umgehen.
Beim Lesen der Bibel komme ich immer wieder an Stellen, wo ich mir so vorkomme, als würde meinen Glaubensaugen so eine Umkehrbrille aufgesetzt. Ich finde mich dann nicht intuitiv zurecht und muss neu überlegen, wie ich damit umgehe. Meine gewohnte Welt steht Kopf und ich bin leicht verwirrt. Ganz häufig geht es mir so, bei den Aussagen und Gleichnissen von Jesus.
Beispiele dafür gibt es genug.
„Die Ersten werden die Letzten sein“
Ich lebe in einer Welt, in der der zuerst mahlt, der zuerst gekommen ist. Seiner Zeit voraus zu sein ist ein Erfolgsfaktor. Wer zuerst investiert, wird den größten Gewinn erwirtschaften. Wer zuerst am Platz ist, darf sein Handtuch drauflegen. Im Reich Gottes spielt das alles keine Rolle. Wer zuletzt kommt darf auch schon mal in die vorderste Reihe. Gar nicht so einfach, das gewohnte Denken umzustellen.
„Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen“
Ich lebe in einer Welt, in der Leben wertvoll ist. Zumindest theoretisch. Zumindest, wenn es um das eigene Leben geht. Mehr Lebensqualität, mehr Achtsamkeit für die eigene Gesundheit, ein möglichst individueller Lebensentwurf, eine optimierte Berufskarriere – vieles dreht sich um die Aufmerksamkeit auf das eigene Leben. Okay – ich sehe auch, dass nicht jeder Mensch diesen Luxus hat. Traurig, wenn Menschen vor Krieg fliehen müssen. Traurig, wenn sie irgendwo im Meer ertrinken. Traurig, wenn Frauen und Kinder vergewaltigt und ermordet werden. Traurig, wenn Menschen verhungern. Aber wenn ich das Leid dieser Welt ständig vor Augen habe, geht doch meine eigene Lebensqualität flöten. Das geht doch nicht, oder?
Jesus grätscht dazwischen und spricht von einem Leben, das gerade dort Qualität gewinnt, wo das eigene – zumindest etwas – aus dem Hauptfokus gerät. Erfüllende Selbstvergessenheit als Weg zu einem reicheren Leben – das ist gar nicht so einfach zu denken.
„Die sanftmütigen werden die Erde besitzen“
Ich lebe in einer Welt, in der diejenigen die Erde besitzen, die sie sich mit Macht angeeignet haben. Oder die sie geerbt haben. Oder die sich alles zusammengekauft haben. Es mögen unter den Reichsten und Mächtigsten auch Sanftmütige Menschen zu finden sein – einen kausalen Zusammenhang gibt es dabei aber nicht. Wer Macht hat, der besitzt. Und umgekehrt.
Gar nicht so einfach, sich eine Welt vorzustellen, in der ein friedfertiger Charakter das Sagen hat.
„Reichtum behindert den Weg ins Reich Gottes“
Ich lebe in einer Welt, in der Geld auch Macht bedeutet. Wer Geld hat, kann sich fast alles kaufen. Nicht nur Dinge. Wer reich genug ist, kann viel erreichen. Er kann andere Menschen dazu bringen, das zu tun, was er will. Klar, der Reiche kann auch krank werden. Aber er kann sich die besten Ärzte leisten. Bei fast allem kommt man mit entsprechend vielen Mitteln fast überall durch.
Gar nicht so einfach, sich eine Welt vorzustellen, in der Reichtum ein Hindernis ist. Gar nicht so einfach, beim Blick auf Menschen ihren Besitz auszuklammern. Gar nicht so einfach, sich selbst nicht mit dem Haben der Anderen zu vergleichen.
„Liebt eure Feinde“
Ich lebe in einer Welt, in der Liebe ein Geben und Nehmen ist. Nicht erwiderte Liebe ist mindestens belastend, wenn nicht gar eine Tragödie. Feinde sortiert man fein säuberlich in Lager. Man kennzeichnet sie, beobachtet sie argwöhnisch. Man solidarisiert sich gegen sie, sucht Verbündete und Mehrheiten für den Kampf. Versöhnung ist zwar gut und wichtig, aber erst, wenn der Feind angekrochen kommt. Oder zumindest den ersten Schritt macht. Dass immer noch so wenig Frieden herrscht hat ja einen guten Grund: der Andere will nicht.
Gar nicht so einfach, sich eine Welt vorzustellen, in der Liebe stärker ist als jeder Hass. In der Liebe die erste Wahl und die ultima ratio – das letzte Mittel – ist. Eine Welt, in der alles an der Liebe gemessen wird – Macht, Einfluss, Sinn, Reichtum usw.
Verkehrte Brille oder verkehrte Welt?
Aber vielleicht täusche ich mich da. Vielleicht trifft es gar nicht so sehr den Punkt, wenn ich denke, dass Jesus mir eine Umkehrbrille aufsetzt. Vielleicht habe ich mir ja bei meinem eigenen Kennenlernen des Lebens mir eine komische Brille wachsen lassen. Ich meine zwar, mich darin ganz gut zurechtzufinden. Aber vielleicht habe ich mich ja wider besseren Wissens einfach nur an diese verkehrte Welt gewöhnt?
Vielleicht setzt mir Jesus keine neue Brille auf, sondern nimmt meine alte runter und ich sehe – verwirrt und unbeholfen – die Welt so, wie sie sein sollte?
Heinrich Esau