„Du bist ein Gott, der mich anschaut“
Das Kind in ihrem Bauch bewegte sich plötzlich. Sie spürte das Leben in sich, eigenständiges Leben. Das berührte sie so sanft, so intim und stand in solch einem Kontrast zu ihren Gefühlen, dass sie in Tränen ausbrach. Sie spürte Rührung und fast so etwas wie Ehrfurcht vor dem, was da in ihr heranwuchs. Sie spürte Wut auf ihr eigenes Leben, auf alle Menschen um sie herum. Sie spürte Zorn über die Ungerechtigkeit, die ihr widerfahren war. Sie spürte Scham, weil sie noch vor kurzem so entschlossen ihr Leben in die eigenen Hände nahm und jetzt nicht wirklich wusste, wie sie weitermachen sollte. Und sie spürte Schuld – gegenüber diesem Kind in ihr, das gar nicht ihr Kind sein sollte und von dem sie nicht wusste, ob sie es lieben oder hassen sollte. All diese Gefühle gingen ununterscheidbar ineinander über, bauten sich zu einer Flutwelle auf und brachen schließlich den Staudamm in ihr, den sie lange Jahre gebaut und sorgsam gepflegt hatte.
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, aber es kamen so viele, dass sie den Schleier nicht wegwischen konnte. Nur sehr unscharf nahm sie ihre Umgebung wahr. Da hörte sie einen Namen. Der Name kam ihr irgendwie vertraut vor und klang doch irgendwie fremd. Es dauerte endlose Augenblicke, bis sie realisierte, dass es ihr Name war. Wie lange hatte sie den nicht mehr gehört? Wer hatte ihn zuletzt ausgesprochen? Ihre Mutter bei der Verabschiedung, als sie an fremde Leute verkauft wurde? Hatte ihre Herrin sie irgendwann mal bei ihrem Namen genannt? Oder kannte sie ihn gar nicht?
„Hagar“ – gab es hier, an diesem einsamen Ort, einer der wenigen Wasserquellen auf dem weiten Weg durch die Negev-Wüste nach Ägypten, noch jemanden, der so hieß wie sie? Sie schaute sich durch ihren Tränenschleier um und sah die verschwommenen Umrisse eines Menschen, der anscheinend sein Gesicht ihr zugewandt hatte. Meint er mich? – fragte sie sich überrascht. „Hagar, Sarais Magd …“ Sie war ganz perplex. An diesem einsamen Ort, einer Zwischenstation ihrer Flucht, gab es jemanden, der nicht nur ihren Namen kannte, sondern auch sie selbst. „… wo kommst du her und wo willst du hin?“ Es dauerte, bis sie die Frage verstand. Das hatte sie auch noch niemand gefragt. Überhaupt hatte ihr noch nie jemand in ihrem Leben Fragen gestellt.
Sie wurde nicht gefragt, ob sie ihre Familie verlassen wollte, damals in Ägypten. Sie musste als Sklavin arbeiten, weil ihre ganze Familie schon immer eine Familie von Sklaven war. Sie wurde nicht gefragt, als sie weiterverkauft wurde – an einen Fremden, der sich nur kurz in Ägypten aufhielt und sie als Geschenk für seine Frau erwarb.
Sie wurde nicht gefragt, ob sie einverstanden war, als ihre Herrin auf den Gedanken kam, sie als Leihmutter zu benutzen. Sie wurde auch von Abraham, dem Mann ihrer Herrin, nicht gefragt, ob sie seine Zweitfrau werden wollte. Sie wurde nicht gefragt, wie sie sich in dieser seltsamen Dreiecksgeschichte fühlte – einerseits mit einem reichen Mann verheiratet zu sein und gleichzeitig weiter Sklavin seiner ersten Frau bleiben zu müssen.
„Wo kommst du her?“ – Selbst sie hat sich diese Frage nie in dieser Deutlichkeit gestellt. Es war eine gute Frage. Und so fing sie an zu erzählen. Sie vergaß ihre Hemmungen, sie vergaß das Unbehagen, dass sie den Menschen ja nicht wirklich kannte, der ihr diese Fragen stellte. Es war jemand da, der sich für sie interessierte und der zuhörte.
Und so erzählte sie ihre Geschichte, wie sie eingezwängt war in ein fremdes Leben. Sie erzählte von ihren Herren, Abraham und Sarai, die reich, aber verzweifelt kinderlos waren und alles für ein Kind machen würden. Sie erzählte davon, wie sie selbst für diesen Kinderwunsch benutzt wurde. Sie erzählte von ihren widersprüchlichen Gefühlen ihrem Kind gegenüber. Sie erzählte von der Hoffnung, die sie am Anfang ihrer Schwangerschaft hatte, dass sie durch das Kind mehr Würdigung und Achtung bekommen würde. Sie erzählte von der Enttäuschung über ihre Herrin Sarai, die zunehmend neidisch wurde und sie immer mehr demütigte. Sie erzählte von der Enttäuschung über Abraham, der sich für nicht zuständig erklärte und die ganze Verantwortung von sich wies. Sie erzählte von ihrer Überforderung, von ihrem Ausbruch und ihrer Flucht.
Als sie sich alles von der Seele geredet hatte, kam ihr langsam der zweite Teil der Frage ins Bewusstsein. „Wo willst du hin?“ – Sie musste sich eingestehen, dass sie es nicht wirklich wusste. Erstmal wollte sie nur weg. Aber wohin sollte sie sich nun wenden? Wo führte sie der Weg hin, den sie eingeschlagen hatte? Zurück nach Ägypten? Dort wartete keiner auf sie! Was sollte sie dort machen? Sich selbst wieder an jemanden verkaufen? Vielleicht an einen der Händler, die hier an der Oase vorbeikommen? Sie hatte sich darüber keine Gedanken gemacht und jetzt, wo sie gefragt wurde, stellte sie fest, dass sie keine guten Perspektiven kannte. Was sollte sie machen?
Der Mensch, mit dem sie redete, der sie kannte – sie war noch nie zuvor einem solchen Menschen begegne – das musste ein Engel Gottes sein! Vielleicht konnte er helfen? Und er konnte! Er erzählte ihr von Gottes Plänen mit ihr: Sie würde eine echte Mutter werden von ihrem eigenen Sohn und nicht nur eine Leihmutter. Er legte ihr nahe, wieder zurückzugehen zu Abraham und Sarai. Er schickte sie zwar zurück in ihr altes Leben aber es würde nicht alles beim Alten bleiben. Sie spürte, sie würde nicht als die frühere namenlose Magd, sondern als eigene Person, als Hagar, die Gott getroffen hat, zurückgehen. Sie würde nie mehr die Unbeachtete, Ungesehene sein, sondern die von Gott Angeschaute.
Hier, an dieser Oase, hatte der Engel Gottes sie auf ihrer ziellosen Flucht gefunden und ihr Leben verändert. „Du bist El Roï, der Gott, der mich anschaut“ – sagte sie und ging zurück. Zurück in eine immer noch verworrene Situation mit immer noch sehr komplizierten Beziehungen, von der sie immer noch nicht wusste, wie sie sie meistern würde. Sie wusste nur, dass Gott sie nicht aus den Augen lassen würde und dass sie eine eigene Zukunft haben würde.
Heinrich Esau